„Bewegungsmangel ist die Epidemie des 21. Jahrhunderts. Rund 80% der Kinder und Jugendlichen bewegen sich kaum noch“
So drastisch beschreibt die Weltgesundheitsorganisation 1World Health Organization (WHO; 2010). Global Recommendations on Physical Activity for Health. (WHO) die aktuellen Entwicklungen in Bezug auf das Bewegungsverhalten von Kindern und Jugendlichen in Deutschland und anderen entwickelten Ländern. Diese Befunde lassen sich auch auf die in Hamburg lebenden Kinder und Jugendlichen übertragen und werden durch aktuelle Studien, wie die der AOK-Familienstudie gestützt. So sei zwar nachgewiesen, dass sich 57 Prozent der befragten Eltern täglich mit ihren Kindern bewegen, für jede dritte Familie ist körperliche Aktivität jedoch nicht Bestandteil der Freizeitgestaltung. Nur jedes zehnte Kind erfüllt demnach die Bewegungsempfehlungen der WHO.
Im wissenschaftlichen Diskurs führt diese Beobachtung immer wieder zu Debatten mit konträren Positionen. So wird auf der einen Seite postuliert, „dass Sport zu den wichtigsten und populärsten Freizeitaktivitäten im Kindes- und Jugendalter gehört, eine überwältigende Mehrheit der Heranwachsenden regelmäßig Sport treibt und Sportlichkeit geradezu als jugendspezifische Altersnorm anzusehen sei“ (Schmiade & Mutz, 2012)2Schmiade, N. & Mutz, M. (2012). Sportliche Eltern, sportliche Kinder – Die Sportbeteiligung von Vorschulkindern im Kontext sozialer Ungleichheit. Sportwissenschaft, 42, 115- 125. DOI: 10.1007/s12662-012-0239-7.. Dem gegenüber stehen jedoch Aussagen und Studien die Heranwachsende nur noch als „Medienfreaks“ beschreiben, die mehr und mehr zu „Stubenhockern“ und „Körperwracks“ regredieren würden – geprägt durch eine zunehmende Mediennutzung und eine passive Lebenswelt (ebd.).
Wie so oft bei sehr gegensätzlichen Meinungen kann angenommen werden, dass sich die Wahrheit zwischen den beiden Extremen befindet: Vieles spricht dafür, dass beide Beschreibungen auf ein reales Phänomen hinweisen: Einige Kinder und Jugendliche treiben viel Sport und ernähren sich sehr gesund. Bei anderen ist die Freizeit hingegen durch Sport- und Bewegungsarmut gekennzeichnet. Diese Unterschiede sind über die Bevölkerungsgruppen nicht zufällig verteilt, sondern sie folgen einem sozialstrukturellen Muster, wie eine aktuelle Studie zur wirtschaftlichen Entwicklung des Sports in Hamburg bestätigt: „Neben dem allgemein positiven Trend darf nicht übersehen werden, dass es jedoch in Teilen eine wachsende Ungleichverteilung vor allem in der aktiven Sportausübung zwischen sozialen Schichten und Generationen gibt“(Cotterell & Vöpel, 2020)3Cotterell, M. & Vöpel, H. (2020). Ökonomische Effekte einer vitalen Sportstadt.. Im Bericht „Hamburger Kinder in Bewegung 2017“4Freie und Hansestadt Hamburg (2017): Hamburger Kinder in Bewegung 2017. Zugriff am 21.04.2021, unter: https://www.hamburg.de/contentblob/10358430/a371681ab9449f69a241f9074caab829/data/hamburger-kinder-in-bewegung-download.pdf werden diese Beobachtungen durch konkrete Ergebnisse gestützt. So scheinen bestimmte Kinder und Jugendliche aufgrund sozialer Einflussfaktoren weniger häufig sportlich aktiv zu sein. Exemplarisch seien hier Mädchen mit Migrationshintergrund genannt, von denen nur ein Viertel (27%) sich intensiv bewegen und aus der Gruppe der 10-Jährigen nur ein Drittel in einem Sportverein aktiv ist. Ebenso wurde festgestellt, dass bei höherem familiärem Wohlstand doppelt so viele Kinder in einem Sportverein aktiv sind (vgl. ebd.).
Welches Resümee lässt sich nach dieser ersten Bestandsaufnahme ziehen? Die körperliche Aktivität von Kindern und Jugendlichen in Deutschland und hier im Speziellen in Hamburg scheint sich nicht für alle gleich zu gestalten. Für die breite Masse kann dabei ein Rückgang an Bewegung und somit eines gesundheitsfördernden Lebensstils festgestellt werden. Besonders betroffen sind dabei aber vor allem jene Kinder und Jugendliche der unteren sozialen Lagen und den damit einhergehenden benachteiligenden sozialen Einflussfaktoren. Diese Entwicklung beschreibt ein gesellschaftliches Phänomen, das zu folgeschweren Problemen auf ganz unterschiedlichen Ebenen führt.
Als besonders schwerwiegende Problematik sei hier an erster Stelle die gesundheitliche Entwicklung genannt. Die KiGGS Studie zeigt hier einen deutlichen Anstieg der Übergewichtsprävalenz. Die gesundheitlichen und psychosozialen Folgen von Bewegungsmangel und Übergewicht im Kindesalter haben meist lebenslang negative Auswirkungen. Neben den körperlichen Beeinträchtigungen sind vor allem kognitive und emotionale Auswirkungen zu nennen. Durch einen zunehmenden Mangel an Bewegungsreizen kann es zu einer Stagnation in der motorischen Entwicklung von Heranwachsenden kommen. Zusätzlich werden auch Defizite in der Persönlichkeitsentwicklung beobachtet. Zu konstatieren ist ebenfalls, dass kurative Maßnahmen bei übergewichtigen oder adipösen Kindern und Jugendlichen nur eine Erfolgsquote von unter 5% ausweisen5Journal of Health Monitoring (2018): Übergewicht und Adipositas im Kindes- und Jugendalter in Deutschland – Querschnittergebnisse aus KiGGS Welle 2 und Trends. Zugriff am 21.04.2021, unter: https://www.rki.de/DE/Content/Gesundheitsmonitoring/Gesundheitsberichterstattung/GBEDownloadsJ/FactSheets/JoHM_01_2018_Adipositas_KiGGS-Welle2.pdf?__blob=publicationFile.
Neben der gesundheitlichen Dimension hat die körperliche Inaktivität auch eine ökonomische Dimension. Die verursachten Kosten der beschriebenen Inaktivität belaufen sich in Deutschland auf 14,5 Milliarden Euro. Ein Anstieg der körperlichen Aktivität um 20% würde laut der WHO ein Kostenersparnis von 2,7 Milliarden Euro in Deutschland bedeuten (vgl. WHO, 2010).
Unbestritten ist zudem, dass gerade der organisierte Sport mit seinen Sportvereinen als Sozialisationsraum für den Erwerb sozialer Kompetenzen dient. Gerade in den Mannschaftsgefügen der Spielsportarten werden Werte und Fähigkeiten wie Durchsetzungskraft und Selbstbewusstsein erworben. Das gemeinsame Sporttreiben – so lautet die Überzeugung – offeriere dabei aber nicht allein Gelegenheiten der Selbstverwirklichung und Selbstbehauptung, sondern halte ebenso zur Fairness, zur Akzeptanz von Regeln und zur Achtung des sportlichen Gegners an, vermittle soziale Kompetenzen, schaffe gegenseitiges Vertrauen, fördere die Chancengleichheit zwischen Männern und Frauen und eröffne nicht zuletzt herausragende Möglichkeiten des kulturellen Austauschs. Sollte dieses so wichtige soziale Setting des Sports immer mehr an Relevanz verlieren, geht damit der Verlust eines wichtigen Sozialisationsraumes und der Zusammenbruch der deutschen Vereinskultur einher.
Darüber hinaus soll hier noch auf eine weitere Perspektive, die der Talententwicklung im professionellen Leistungssport, eingegangen werden. Denn angesichts des demographischen Wandels steht dem deutschen Hochleistungssport und den angegliederten Leistungszentren ohnehin nur eine begrenzte Anzahl an Kindern und Jugendlichen zur Verfügung. Ebenso stellt sportliches Talent per se ein knappes Gut dar. Reduziert sich der Pool der potentiellen Nachwuchssportler dann noch zusätzlich, da ein Großteil der Kinder und Jugendlichen keinen Zugang zum Sport findet, werden dem Leistungssport in Deutschland notwendige Ressourcen entzogen, die für seine Existenz unabdingbar sind. Als Adressat dieser Problematik gerät dann vor allem der DOSB, der als Dachverband mit seinen angegliederten Organisationen die Talentförderung zu einer seiner Hauptaufgaben deklariert, in Erklärungszwang. Denn zum einen muss sich dieser aus rein sportpolitischer Perspektive rechtfertigen, da die angestrebte Vision der Nachwuchsförderorganisationen eines gleichen Zugangs für alle nicht erfüllt wird. Zum anderen kann er unter den gegebenen Bedingungen seiner eigentlichen Funktion, die Besten der Besten, gemessen an dem Kriterium des sportlichen Erfolgs, zu fördern, nicht gerecht werden.
Die Initiative „Hamburg bewegt Kids“ möchte diesem Trend mit einem strukturellen inhaltsstarken Ansatz entgegentreten und die Qualität sowie Quantität von Bewegungsangeboten für Kinder und Jugendliche in Hamburg deutlich erhöhen. Durch intensiv und hochqualitativ ausgebildete Kids-Coaches und Quartiersmanager möchten wir einen hohen Fokus auf die koordinativ-kognitive Vielseitigkeit von Kindern legen. Dies soll zu einer nachhaltigen Begeisterung an Sport und Bewegung führen.
Diese Begeisterung möchten wir durch eine analoge und digitale Vernetzung von Kitas, Schulen und Vereinen und der täglichen Arbeit der Kids-Coaches und Quartiersmanager in den Hamburger Stadtteilen entfachen. Unser sportlicher Ansatz sieht eine polysportive Bewegungsausbildung bis hin zur 3. Klasse vor, die schließlich durch den langjährig praktizierten und wissenschaftlich verifizierten Deutschen-Motorik-Test die Kinder und Jugendlichen zu individuell passenden spezialisierenden Bewegungsangeboten im Vereinssport hinführen soll. Für den nachhaltigen Erfolg der Initiative ist eine intensive Arbeit an der Basis in den Kitas und Schulen nötig. Das Bewusstsein für die Problematik muss geschärft werden und den Erziehern, Lehrern und Eltern müssen Lösungsvorschläge über digitale und analoge Fortbildungen an die Hand gegeben werden.
Die Mischung aus Bewusstsein für Problematik und Wichtigkeit für Bewegung sowie die einfache Zurverfügungstellung starker (sportlicher) Inhalte ermöglicht eine erfolgreiche langfristige und nachhaltige Skalierung der Initiative „Hamburg bewegt Kids“. Eine Idee, die nicht nur Hamburg nachhaltig verändern kann, sondern einen systematischen Strukturwandel der deutschen Sportlandschaft initiieren soll.
- 1World Health Organization (WHO; 2010). Global Recommendations on Physical Activity for Health.
- 2Schmiade, N. & Mutz, M. (2012). Sportliche Eltern, sportliche Kinder – Die Sportbeteiligung von Vorschulkindern im Kontext sozialer Ungleichheit. Sportwissenschaft, 42, 115- 125. DOI: 10.1007/s12662-012-0239-7.
- 3Cotterell, M. & Vöpel, H. (2020). Ökonomische Effekte einer vitalen Sportstadt.
- 4Freie und Hansestadt Hamburg (2017): Hamburger Kinder in Bewegung 2017. Zugriff am 21.04.2021, unter: https://www.hamburg.de/contentblob/10358430/a371681ab9449f69a241f9074caab829/data/hamburger-kinder-in-bewegung-download.pdf
- 5Journal of Health Monitoring (2018): Übergewicht und Adipositas im Kindes- und Jugendalter in Deutschland – Querschnittergebnisse aus KiGGS Welle 2 und Trends. Zugriff am 21.04.2021, unter: https://www.rki.de/DE/Content/Gesundheitsmonitoring/Gesundheitsberichterstattung/GBEDownloadsJ/FactSheets/JoHM_01_2018_Adipositas_KiGGS-Welle2.pdf?__blob=publicationFile